Historie zur Entwicklung der Säuglingshüftsonographie in Deutschland
In der orthopädischen Universitätsklinik Münster (Hüfferstift) war ich seit Mai 1973 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 88 (Teratologische Forschung und Rehabilitation Mehrfachbehinderter „Contergan-Kinder“) an der WWU Münster mit experimentellen Untersuchungen zur Funktion der Wachstumsfugen mit Udo Rodegerdts und Wulf Henning beauftragt. Mein damaliger Chef, Herr Prof. Hans Henning Matthiass, war für alle neuen wissenschaftlichen Forschungen immer sehr aufgeschlossen und orderte anlässlich eines amerikanischen Orthopädiekongresses eine „sonographische Untersuchungseinheit mit Wasserbett“, die in der Klinik einen ganzen Raum ausfüllte. Die Kollegen Kramps (Physiker) und Lenschow (Orthopäde) teilten 1978 ihre wissenschaftlichen Ergebnisse sowie weitere sonographische Untersuchungsmöglichkeiten im orthopädische Bereich in einer Veröffentlichung mit.
Angeregt durch diese Arbeit begann Reinhard Graf auf der Stolzalpe (Österreich) systematisch nach Anwendungsgebieten des Ultraschalls am Haltungs- und Bewegungsapparat zu suchen. Neben der Darstellung von Muskeln und Sehnen gelang es ihm, erstmals sonographisch mit Hilfe weiterer technischer Geräteverbesserungen direkt postpartal die Säuglingshüfte darzustellen und eine Klassifizierung des pathoanatomischen und pathomorphologischen Entwicklungszustandes zu erarbeiten. Die „Hüftentwicklungstypen“ waren geboren!
Eigene experimentelle Untersuchungen in der Wachstumsforschung konnten eine Vielzahl von Gesetzmäßigkeiten darstellen, die besonders das pathologische Hüftwachstum erklären konnten, aber auch Befunde zur Stimulation und zur schnelleren Verknöcherung des hyalin präformierten Pfannendachknorpels liefern.
Das Verdienst von Reinhard Graf ist besonders zu würdigen, weil nur die sonographische Untersuchung einen Hüftentwicklungszustand exakt definieren kann.
Die konservative biomechanische Therapie kann sofort beginnen, bevor sich eine weitere defizitäre Pfannenverknöcherung mit nachfolgender Dezentrierung bis hin zur Luxation ergibt. Leider haben in der „vorsonographische Ära“ der früheren Jahre „klinische“ Untersuchungen zur Dysplasiediagnostik allein nicht ausgereicht; das haben die Ergebnisse mit vielen übersehenen Hüftluxationen gezeigt. Tönnis (1984) zeigte in einer Sammelstatistik aus der vorsonographischen Ära, dass bei rein klinischer Diagnostik unter Berücksichtigung der Familienanamnese und sog. Risikofaktoren 54% pathologische Hüftbefunde „übersehen“ wurden; das heißt, jede zweite pathologische Hüfte wurde nicht erkannt. Nach Tschauner entspricht rein klinisches Screening also dem Werfen einer Münze („Kopf oder Zahl“)!
Glücklicherweise wurde die sonographische Untersuchungstechnik bei den Orthopäden zunehmend beliebt, war doch bis Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts die Entwicklung und Reifung der Hüftgelenke innerhalb des ersten Lebensjahres nicht bekannt! Reinhard Graf auf der Stolzalpe bei Murau in der Steiermark wurde hochgelobte „Pilgerstätte“ für interessierte Orthopäden.
Während meiner klinischen Ausbildung in der Münsteraner Uniklinik sahen wir die Mehrzahl der Kinder mit luxierten Hüftgelenken im Alter von frühestens 1-1 ½ Jahren, wenn infolge einer Hüftluxation leider erst bei Laufbeginn ein hinkendes Gangbild offenbar wurde. Häufig folgten danach später noch Operationen am dysplastischen Pfannendach, so dass als „worst-case“ leider drei Operationen pro Hüfte bis zur Einschulung erforderlich wurden.
Nach meinem ersten Sonographiekurs im März 1984 bei R. Graf auf der Stolzalpe habe ich sofort mit der Sonodiagnostik in der Praxis begonnen. Erfreulicherweise konnte ich die Gynäkologen einer großen geburtshilflichen Abteilung in Dortmund im St. Johannes-Hospital (damals ~1800 Geburten pro Jahr) von der Wichtigkeit einer Untersuchung unmittelbar nach der Geburt überzeugen. So ergab sich die einmalige Chance, eine Vielzahl von Kindern mit dezentrierten Gelenken zu diagnostizieren und unmittelbar postpartal die biomechanische Behandlung einzuleiten.
In der Praxis stellten sich ausschließlich ältere Kinder mit etwa 6 Monaten und älter zur Diagnostik vor. Die therapeutischen Bemühungen bezüglich der Auswahl von geeigneten Therapiemitteln überließ Graf dem „Geschmack und der Erfahrung“ der Kursteilnehmer. Aus der damaligen Zeit verständlich verglich er sogar die Therapie mit einer „Religion“! Nur leider fehlte auch den meisten Kursteilnehmern die Erfahrung, vor allem bei der Behandlung Neugeborener.
2022, 42 Jahre nach Erstpublikation ist das sonographische Screening im deutschen Sprachraum fixer Bestandteil und „golden Standard“ der Screening Untersuchung. Es ist in unseren Breiten mittlerweile fast zu selbstverständlich, dass Hüftreifungsstörungen frühzeitig sonographisch diagnostiziert und typenadäquat fast zu 98% konservativ zur Ausheilung gebracht werden können: Deutschland und Österreich haben weltweit mittlerweile die niedrigste Rate an operativen Hüfteinstellungen.
Diese derzeit hervorragende Behandlungsoption muss unbedingt in Kenntnis der Historie der Dysplasiebehandlung mit derzeitigem Wissen um die postpartale Pfannendachverknöcherung verstanden werden.
1987 wurden fachliche und apparative Voraussetzungen in den Ultraschallrichtlinien von der kassenärztlichen Bundesvereinigung festgelegt. Auch wurde ein Kurssystem mit Grund- Aufbau- und Abschlusskurs mit zeitlich und inhaltlich festgelegten Auflagen auf den Weg gebracht, so dass eine gute und strukturierte Ausbildung erfolgte. Hinzu kam zur Abrechnungsfähigkeit noch eine mündliche Prüfung bei der kassenärztlichen Vereinigung, die ich damals bis 1988 abnehmen musste.
Aus welchen Gründen auch immer wurde 1988 das gut funktionierende Kurssystem bei den Kinderärzten und Radiologen verlassen und in die klinische Weiterbildung verlegt. Bei den Orthopäden erfolgte diese Entscheidung 1993, also 5 Jahre später.
Seither waren bei der KV keine Prüfungen mehr angesagt, und dieses „Unheil“ nahm seinen weiteren unglücklichen Verlauf bis heute!